«The Wire»: Eine der besten Serien aller Zeiten, die heute noch genauso aktuell ist wie vor 19 Jahren
«The Wire» ist eine Krimiserie, die sich in keine Schublade drängen lässt. Denn sie ist viel mehr als das stumpfe Aufklären von Morden. Sie ist das Abbild eines realen Amerikas, das in Hollywood aber lieber mit viel Glitzer und Pomp überzeichnet wird.
Das Jahr 2002. In den meisten EU-Ländern wird der Euro eingeführt, die Schweiz tritt der UNO bei und der Internet Explorer hat einen Marktanteil von 90 Prozent. Auf HBO flimmert die erste Episode einer Serie über amerikanische Bildschirme, die der «Rolling Stone» später als zweitbeste Serie aller Zeiten hinter «The Sopranos» nennen wird: «The Wire».
Baltimore, eine Stadt an der US-amerikanischen Ostküste mit einer hohen Kriminalitätsrate. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen einerseits das Baltimore Police Department und andererseits Gangs, die meist irgendwas mit Drogen am Hut haben. Vor allem der Barksdale-Clan – von den «Hoppers» (ich lerne sehr viel Street Slang) bis zu den Bossen, Geschäftspartnern und Klienten – spielt eine grosse Rolle. In jeder Staffel wird vordergründig ein Fall bearbeitet, der neue Charaktere einführt, wobei viele der alten aber bestehen bleiben und sich weiterentwickeln.
Mehr als ein Krimi
Klingt nach klassischem «Gut gegen Böse» made in Hollywood, ist es aber nicht. Bei «The Wire» scheint keine Seite je so richtig zu gewinnen. Die Serie ist nur vordergründig ein Krimi, viel mehr gibt sie die Wirklichkeit einer ganzen Stadt wieder und übt Gesellschaftskritik. Die Stadt hat die höchste Mordrate von Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern in den USA, vergleichbar etwa mit der von El Salvador. Armut, korrupte Politiker und gewalttätige Gangs sind die grössten Probleme. 1993 wurden innerhalb eines Jahres 353 Morde verübt, ein trauriger Rekord in der Geschichte Baltimores.
Einst eine grosse Industriestadt mit vielen gut bezahlten Jobs, die keine grossen Qualifikationen voraussetzten, wurde die Stadt an der Ostküste tief von der Deindustrialisierung in den 1980er- und 90er-Jahren getroffen. Durch unzählige internationale Freihandelsabkommen wurden industrielle Jobs in Entwicklungsländer verlagert, wo die Arbeit um ein vielfaches günstiger verrichtet wurde. Heute sind über 30 Prozent der Jobs schlecht bezahlte Dienstleistungsarbeit.
Laut Recherche der «Baltimore Sun» im Jahr 2016 wurden 80 Prozent der Morde in nur 25 Prozent der Stadtfläche begangen. Diese Quartiere zeichnen sich vor allem durch eine hohe Armut und daraus resultierende Perspektivlosigkeit aus.
The Great Migration
Zwischen 1900 und 1970 kamen etwa sechs Millionen afroamerikanische Bürger aus dem Süden in die nördlichen Bundesstaaten, um der Rassentrennungund der schlechten Wirtschaftslage zu entfliehen. Im Jahr 1970 war erstmals die Mehrheit der Bevölkerung Baltimores afroamerikanisch und blieb es seither. Weisse Bürger zogen aus der Stadt in die Vororte, angeheizt von Rassismus und einer Geschäftsstrategie, die sich «Blockbusting» nennt. Makler überzeugen weisse Immobilienbesitzer davon, ihre Häuser günstig zu verkaufen. Sie argumentieren unter anderem damit, dass durch den Einzug afroamerikanischer Bürger das Schulsystem schlechter, die Kriminalität höher wird und die Immobilienpreise sinken werden.
Auch in «The Wire» spielen Armut und die afroamerikanische Bevölkerung eine grosse Rolle. So sind zwar einige Polizisten weiss, die Bevölkerung in den Quartieren aber mehrheitlich afroamerikanisch. Ausserdem wird immer wieder dargestellt, wie sich die Mehrheitsverhältnisse auf das Leben in der Stadt auswirkt. Die afroamerikanische Bevölkerung beeinflusst die Sprache, die Kultur und entscheidet, wer politisch überhaupt erfolgreich sein kann. So fokussiert die zweite Staffel mehr auf weisse Bewohner, die in den Drogenhandel involviert sind. Die Strassendealer reden dabei wie afroamerikanische Dealer und bedienen sich deren modischen (teilweise kulturell verankerter) Trends, was sie nicht nur für Afroamerikaner lächerlich erscheinen lässt.
Der Kampf gegen Drogen
Generell dreht sich in der Serie fast alles um Drogen. Es gibt die hochrangigen Drogenbosse, die einfachen Strassendealer, das Klientel und die Polizei, die den Drogen und den damit verbundenen Verbrechen auf der Spur ist. Vor allem Heroin scheint allgegenwärtig zu sein. Wieder ein ziemlich genaues Abbild der Realität.
Baltimore gilt 2001 als Heroin-Hauptstadt der USA. Die Drogenvollzugsbehörde (DEA) schätzt, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung abhängig von dem Opiat sind. 2002, als «The Wire» das erste Mal auf HBO ausgestrahlt wurde, ist die Droge einfach und überall verfügbar. Aus Südamerika kommt Heroin nach New York und Philadelphia und wird von dort aus meist über Land von Kurieren nach Maryland gebracht. Dass Baltimore eine Hafenstadt ist, scheint beim Drogenhandel nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zwar kommt vor allem Heroin aus Südasien (vor allem Afghanistan) über den Seeweg an, diese Mengen sind aber beinahe unbedeutend im Vergleich zu denen über den Luft- und Landweg aus Südamerika.
«The Wire» thematisiert insbesondere die Kriminalisierung und Verfolgung der Drogendealer. Drogensüchtige spielen bis auf ein, zwei Beispiele eher Nebenrollen. Sie werden meist sich selbst überlassen oder kurzzeitig verhaftet, von Programmen ist kaum die Rede. Seit Präsident Richard Nixon 1972 den «War on Drugs» ausrief, versuchen die USA ihr Drogenproblem auf eher repressive Art unter Kontrolle zu bringen. Funktioniert hat das nicht wirklich, es hat jedoch dazu geführt, dass das Land mit Abstand die meisten Inhaftierten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung hat. In den USA wird der Erfolg der Polizei an der Anzahl Verhaftungen gemessen, was die Aufklärung von Mordfällen weniger attraktiv macht als die Verurteilung vieler Kleindealer.
Die dritte Staffel von «The Wire» nimmt sich diesem Thema an und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der harte Drogen legal sind. Die Dealer wie auch Süchtigen haben keine plötzlichen Razzien zu befürchten, die Kriminalitätsrate sinkt, da sich verfeindete Gangs nicht gewaltsam um Territorien streiten und die Einführung von Gesundheits- und Sozialprogrammen in der Gegend lassen die Zahl der Überdosen und Krankheiten zurückgehen. Die offene Szene ist für die einen Utopie, für die anderen Dystopie, doch sie zeigt einen anderen Weg auf im Umgang mit illegalen Drogen.
Aber auch eine legale Droge hat in jeder Episode ihren Auftritt: Alkohol. Vor allem die Polizei hat absolut kein Mass mit Bier und Schnaps. Einige Detectives sind abends hackedicht, übergeben sich morgens dann erst einmal oder kommen überhaupt zu spät. Innerhalb der Baltimore City Police wird das nie gross thematisiert. Es werden ab und zu Witze gemacht, wenn wieder jemand nach durchzechter Nacht am Bürotisch einschläft, wird ihm traditionell die Krawatte abgeschnitten, aber meistens wird sich darüber einfach ausgeschwiegen, während illegale Drogen als grösster Unheilbringer und die darin Involvierten als Abschaum angesehen werden. Dieser unreflektierte Umgang mit den Folgen legaler Drogen und der eigenen Lebensweise lässt sich wieder in die Realität übersetzen und betrifft dort die meisten westlichen Gesellschaften.
Vom Polizeireporter zum Serienproduzenten
Verantwortlich für diese Mischung aus Gesellschaftskritik und Krimi ist David Simon. Er war jahrelang Polizeireporter bei «The Baltimore Sun», bevor er sich der Produktion von Fernsehsendungen verschrieb. Kein Wunder also, dass der Plot so authentisch und differenziert ist und sich keinen billigen Klischees bedient. Simon hat zwischen 1982 und 1995 über Verbrechen in der Stadt berichtet und dabei vieles aus der Nähe mitbekommen. 1988 nahm er sogar ein Jahr Urlaub, um die Mordkommission des Baltimore Police Department täglich bei ihrer Arbeit zu begleiten. Daraus entstand das Buch «Homicide: A Year on the Killing Streets», das vierzehn Jahre später einige Charaktere bei «The Wire» inspirieren sollte.
Nochmal 19 Jahre später, im Jahr 2021, ist der Euro zwar etabliert, der Internet Explorer ist bei mir Google Chrome gewichen und die Schweiz bekommt vielleicht bald E-IDs, aber «The Wire» funktioniert noch immer. Das hat einen schönen und traurigen Grund. Einerseits wird Qualität nicht von der Zeit beeinflusst. Gut bleibt gut. Andererseits aber sind die Themen der Serie leider heute noch gleich aktuell wie damals. Armut, Korruption, Gewalt und Drogen sind noch immer allgegenwärtig in Baltimore. Die Probleme sind teilweise sogar schlimmer geworden.
So wurde Heroin zunehmend durch das synthetische Fentanyl ersetzt, das um ein Vielfaches potenter ist. Die Herstellung ist einfacher und die Marge höher, weshalb damit viel mehr Geld zu machen ist. Für Abhängige aber ist dieser Wandel tödlich. Vor allem ältere Langzeitnutzer sterben häufiger an einer Überdosis, da sie die Potenz von Fentanyl nicht richtig einschätzen. 2015 war zudem das Jahr mit der höchsten Kriminalitätsrate in der Geschichte Baltimores. Im April wurde der 25-jährige Freddie Gray verhaftet und erlitt im Streifenwagen schwere Verletzungen an Nacken und der Wirbelsäule und fiel in ein Koma, bevor er eine Woche später verstarb. Dieser Vorfall von Polizeigewalt entfachte Proteste, Ausschreitungen und eine Welle von Gewalt.
Grossartige Charaktere
Trotz dieser schweren Leitthemen, mit denen die Stadt noch heute zu kämpfen hat, und viel Gesellschaftskritik, schafft es die Serie sich eine gewisse Leichtigkeit zu erhalten. Das liegt vor allem an den hervorragenden Charakteren. Da gibt es solche mit einer unglaublichen Coolness, solche mit grossartigem Humor, solche, die mehr durchs Leben stolpern als einem geebneten Weg zu folgen. Neben all den grossen Themen der Serie hat jeder Charakter auch seine eigene kleine Welt, in die er Einblick gewährt. So werde ich als Zuschauerin nicht laufend mit den grossen Problemen der Gesellschaft erschlagen, sondern bekomme immer wieder eine Auszeit durch das Aufzeigen von Alltagsschwierigkeiten und -erfolgen. Und als Zückerchen obendrauf, passieren all diese Momente in der wunderbaren Mode der 2000er.
Diese perfekte Mischung aus Gesellschaftskritik, Krimi, Humor und ausserordentlich guten Charakteren führt dazu, dass ich mich jetzt schon ein wenig vor dem Tag fürchte, an dem alles zu Ende sein wird. Ich fürchte mich vor der Leere, die mich überkommen wird, wenn ich die letzte Staffel in die Videothek zurückbringen werde und nicht weiss, was ich als nächstes ausleihen soll.
Élargir mon horizon: voilà comment je résumerais ma vie en quelques mots. J'aime découvrir de nouvelles choses et en apprendre toujours plus. Je suis constamment à l'affût de nouvelles expériences dans tous les domaines: voyages, lectures, cuisine, cinéma ou encore bricolage.